Auf dem Frankfurter Hauptfriedhof
Wo Buchstaben und Zahlen überwiegend in Stein gemeißelt sind, wo sie Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte überdauern, wo neben bloßen Namen auch Worte verewigt sind, die Sinn stiften und Trost spenden sollen, da finden sich hier und da echte Schätze.
Eckhard Henscheid, der lange Zeit in Frankfurt lebte, hat möglicherweise auch Fundstücke von eben jenem Ort in sein literarisches Werk einfließen lassen.
Den folgenden Textauszug werden Henscheid-Kenner zweifellos nach wenigen Augenblicken dem richtigen Werk zuordnen. Für alle anderen Leser sei auf die Quellenangabe am Ende des Textes hingewiesen.
"... Eine dritte Leidenschaft neben Trinken und Weinen ergriff in diesen Tagen wohltätig mein gemartertes Gemüt: der regelmäßige Besuch unserer Friedhöfe. Ein wahres Labsal. Heiterkeit, wohin das Auge reichte! „Hier ruht ein guter Mann, ein gerechter Mann, ein Idealist. Gotthold Prem. Polizist."
Oder: „Ihr habt mich gehabt, jetzt habe ich euch.“ „Hier schläft unser Sonnenscheinchen Hansi (Anderl).“ „Ruhestätte Familie Unverzagt“. Schließlich mein Lieblingsgrabkreuz: „Hier ruht unser liebes Kind Hufnagel.“ Bezaubernd!
Ein Gymnasialprofessor aber hatte auf seinen Grabstein schreiben lassen:
„Ausgezogen bin ich,
Daß das Glück ich erhasche,
Dann hab ich es erhascht,
Jetzt bin ich eine Asche.“
Das war noch Leben! Der prallvolle Stumpfsinn! Ich wandelte oft stundenlang zwischen den Gräbern hin und her, keine der gesammelten und gemeißelten Verschnarchtheiten sollte mir auskommen!
Einmal nahm ich sogar Alfred Leobold mit auf den Gottesacker. Ein ätzend mildschöner Samstag. Der Geschäftsführer hatte sich zwar nur widerwillig aus der damals schon bevorzugten italienischen Gastwirtschaft Wacker-Mathild abführen lassen, hatte aber schließlich gehorcht und humpelte jetzt bravourös hinter mir durch die Grabreihen her. Einrucksvoll, was er alles über die Toten wußte:
„Da, Moppel, die alte Inzelsberger-Matz!“ lächelte er vor einem glänzend polierten Grabbrocken, der tatsächlich die Inschrift „Barbara Inzelsberger. Metzgersgattin. Et resurrexit tertia die“ trug, „das war vielleicht eine Matz, o mei! Ich bin immer gut mit ihr ausgekommen. Wir sind damals beim Reitclub nach Ungarn geritten, o mei, das kannst dir nicht vorstellen, Moppel. Die hat gebrüllt! Der Mann war froh, wie's dann weg war. Krebs“, berichtete Alfred Leobold gewissenhaft, „und da, der Winkler Theo, den hast ja auch noch gekannt, der Duschke hat ihn einmal in der Samariter-Wirtschaft beleidigt. Theo, hat der Duschke gesagt, gell, paß auf deine Frau besser auf. Und Arschgesicht, Arschgesicht hat er ihn geheißen. Wollt er schon auf den Duschke los, wenn ich nicht sag: Theo, der Duschke meint’s nicht so. Vierzehn Tag' später war er tot.“
Wieviel Tote Alfred Leobold im Herzen bewahrte! Ich machte ihn auf das Professorengrab mit der meisterlichen Inschrift aufmerksam. „Genau“, sagte der Teppichhändler, „der war zuerst am Humanistischen Gymnasium, dann ist er in die ReaIschule versetzt worden, weil er immer den Schülern die Schulmilch weggesoffen hat und andere Sachen. Mein Schwippschwager hat ihn noch gekannt, der Ebert Willi. Ich könnt' dir aber jetzt gar nicht mehr genau sagen, an was der gestorben ist, ist der nicht in der Iller ertrunken? HaIt, nein, das war der Weichsler Hermann, der damals immer mit dem Lösch Gandhi in der Escamillo-Bar den Sekt ...“
Wie schön! Fahl duftend kräuselte sich der Altweibersommer über das Flecken-, Marmor- und Weihwasserunwesen. „Und da“, rief Alfred Leobold und zwinkerte vergnügt auf einen rötlichen Quader, „da tun's mich einmal rein.“ Tatsächlich, „Familie Leobold“ stand da ohne jeden weiteren Firlefanz und wunderbar! nur dreieinhalb Meter von der Grabstätte meiner Familie entfernt!
„Aber jetzt noch nicht!“ faßte Alfred Leobold pfiffig nach und besah kurz und gleichsam kritisch die Anpflanzung seines fast pompösen Familiengrabs, ob auch alles in Ordnung gehe. „Prima“, befand er und verzog sein Gesichtchen sofort ins Schmerzliche hinüber: „Mensch, ich hätt’ jetzt einen Durst, Moppel, ich kann dir's gar nicht sagen. Ich weiß gar nicht, was das ist ...“
Ach, das Leben, bevor es verschwindet, hatte doch trotz allem seinen Schliff! ...“
Eckhard Henscheid:
Geht in Ordnung sowieso genau
Ein Tripelroman über zwei Schwestern, den ANO-Teppichladen
und den Heimgang des Alfred Leobold.
Frankfurt am Main, Verlag Zweitausendeins.
S.148 ff.
Zitiert mit freundlicher Genehmigung durch Zweitausendeins.
Bei Zweitausendeins ist u.a. eine Werkausgabe von Eckhard Henscheid erhältlich.
Wer an weiteren Beispielen von Friedhöfen in der Literatur interessiert ist, sollte die Internetseite www.stein-werkstatt.de" besuchen. Dort finden sich nach Jahreszeiten geordnet weitere fotografisch-literarische Impressionen.